NAW RUZ

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Mein Bruder und ich auf unserer Terrasse 1982, in Villach in unserem Elternhaus.

Gerade bin ich von der Schule nach Hause gekommen. Es ist Neujahr, Naw Ruz, ein neuer Tag, der 21. März, Frühlingsbeginn. Der Schulweg ist mir so vertraut, dass ich genau weiß, wo die ersten Schneeglöckchen und in welchen Gärten gelbe Narzissen blühen. Eigentlich kann ich mich nicht erinnern, dass es ein einziges Mal an diesem Tag geregnet hätte. Es scheint immer die Sonne. In unserem Haus tauchen plötzlich und überall Schokoladehasen, Keramikhasen, Salz- und Pfefferstreuerhasen, Osternester, Blumen, Hähne, Küken in allen Variationen aus ihren Verstecken auf, denn oft trifft Ostern auf diese Zeit. Alles ist bunt. Sogar unser Mittagessen. Zu jedem feierlichen Anlass wird persisch gekocht. Der Duft von Basmatireis erfüllt alle Räume. Jeder von uns versucht sich abwechselnd an die Küche heranzupirschen, um mit bittenden Blicken und schnellen Fingern  unserer Mutter noch ein paar unfertige Köstlichkeiten zu entlocken. Mit einem kleinen Gurkenstück oder Ähnlichem und einen Klaps auf unsere Hände sind wir immer wieder entkommen. Manchmal reicht sie uns schon ein Stück, ohne sich weiter von ihrer Arbeit ablenken zu lassen, und entlässt uns wieder mit einem zärtlichen Lächeln, bei dem sie uns nicht einmal in die Augen sehen muss. Sie weiß immer genau, wo wir sind. Sie weiß überhaupt immer alles. Sie schafft es immer, so zu sein, wie wir es von ihr wünschen und erwarten, und gleichzeitig kann nur sie uns wirklich überraschen. Der Tisch auf der Terrasse ist gedeckt mit gelben Servietten, gelbem Orangensaft, gelben Tellern, gelbem Tischtuch mit großen gelben Blumen drauf. In der Mitte steht „mein“ gelber Safranreis. Es geht gar nicht anders. Wir sind alle glücklich, für diesen einen Moment. Das Gras ist frisch gemäht und dieser auch zu meinen Lieblingsgerüchen gehörende Duft mischt sich unter diesen orientalischen Zauber in ländlicher Umgebung. Um sich nicht von diesem Ort wegbewegen zu müssen, wird unaufhörlich weitergegessen. Tee wird aus dem Samowar geschenkt und getrunken, dazu Torte gegessen. Bunte Geleehasen und Geleeküken tanzen auf Schokolade. Gnadenlos  verschwinden sie in unseren Bäuchen und erst nächstes Jahr werden wieder welche auftauchen. Jetzt wird es kalt. Wir holen unsere dicksten Jacken und wärmen unsere Hände an den Tassen. Die Sonne dürfte niemals untergehen. Ohne sie frieren wir. Langsam wird es dunkel, wir räumen alles wieder zurück ins Haus. Die bunten Farben verlieren ihr Strahlen und das unserer Gesichter verschwindet mit.

Jahre später in Wien

Viele Auftritte von Hasen und Küken habe ich schon verpasst. Ganz Anderes habe ich hinuntergeschluckt und in meinem Bauch verschwinden lassen. Sie fehlen mir. Es ist Neujahr, Naw Ruz, der 21. März, Frühlingsbeginn 2003, ein Tag nach Kriegsbeginn zwischen Iran und Irak und irgendetwas liegt in der Luft. Das Telefon läutet. Müdigkeit hält mich davon ab, den Hörer abzunehmen, aber ich kenne dieses Läuten. Es ist Punkt zwölf. Langsam stehe ich auf, stelle mich unter die brühend heiße Dusche, die Duschtür gerät aus den Fugen. Ich versuche sie, bevor sie ganz nach außen kippt, aufzuhalten und dabei fällt mir der Duschkopf aus der Hand. Das Badezimmer badet zum ersten Mal selbst. Das Haarshampoo, gut aufgeschäumt, rinnt mir in die Augen und ich wünsche mir in diesem Moment, Babyshampoo verwendet zu haben. Halb blind versuche ich den Duschkopf wiederzufinden, um meine Augen und meine Haare auszuspülen. Nachdem ich meinen kleinen Zeh kurz daran gestoßen habe, weiß ich, wo er ist. Ich hebe ihn auf, verstelle die Temperatur wieder auf 40 Grad, da mir schon wieder kalt geworden ist. Plötzlich fängt die Therme an zu zischen und  kurz darauf  ist das Wasser eisig kalt. Unter größter Selbstbeherrschung dusche ich fertig und steige fröstelnd aus der Dusche. Ziemlich viel Zeit vergeht, um mich und das Bad wieder trocken zu legen. Selbst noch mangelfeucht stelle ich Wasser für den Kaffee auf. Das Geschirr vom Vortag wird unter diesen Bedingungen nicht abgewaschen. Ich setze mich dann, mit dem Gedanken, das ist kein guter Tag, und meinem löslichen Frühstückskaffee zu meinem Schreibtisch und rufe meine Mutter an. Sie klingt nervös und schwach. Ihr Husten klingt gequält, aber nebensächlich. Die übliche Freude, ihre Stimme, zu hören wird von meiner Sorge überdeckt. Meine Neujahrsglückwünsche finden keinen Widerhall. Mit einem Zittern erzählt sie mir, dass mein Vater mit der Rettung ins Krankenhaus gebracht worden ist. Nach einer zu lange andauernden Grippe ist er immer schwächer geworden, hat schweigend vor sich hin gelitten und ist heute vor seinem Bett zusammengebrochen. Beunruhigt hat sie daraufhin meinen Bruder, der ebenfalls Arzt ist, angerufen und ihn gebeten, sich um ihn zu kümmern. Am späten Nachmittag hat sich die Situation beruhigt. Sein Zustand hat sich gebessert, alles wird für ihn im Krankenhaus, in dem ihn alle kennen, da er jahrzehntelang dort gearbeitet hat, getan. Dort ist er zurzeit am besten aufgehoben. Langsam können wir uns wieder entspannen. Erleichtert kann ich jetzt erst weinen. Das neue Jahr schickt mir ein Zeichen der Vergänglichkeit. Zeichen dafür, den Moment zu leben und zu schätzen. Zu lieben und niemals zu vergessen. Schöne Erinnerungen zu sammeln, um sich immer wieder daran zu erfreuen. Die Zeit ist kurz, so Vieles ist noch zu feiern, zu geben, zu sagen. Ich bedanke mich für das Schöne und sehe gleichzeitig wieder das Hässliche, den Krieg.

Immer ein neuer. Ein alter schon längst vergessen. Der davor ruft nur ein erzwungenes, verschwommenes, fast allgemein gültiges Bild hervor. Kinder, die sterben, Soldaten, Panzer, Bomben, Feuer, Ruinen, Staub, Kampfflieger, militärische Pläne, Massengräber, Verwundete, Leere, Armut, Geld, Macht, Flüchtlinge, posierende Politiker fernab des Kriegsgeschehens, Fragen, Antworten, Lügen. Ein verrückt, brutales, scheinbar unwirkliches Gemetzel. Dennoch unvorstellbar, dass es irgendwann keinen Krieg mehr geben wird. Ich zwinge mich, daran zu glauben und wünsche mir, dass meine guten Energien ihren Teil zum Frieden beitragen, so wie schlechte Energien wie der Krieg auch die Kraft haben, die ganze Welt und mein Leben durcheinanderzubringen. Scheinbar für alle spürbar. Mein Vater, ein sehr religiöser Mann, der für die Liebe und den Frieden lebt, hat diesen Rückschlag sogar körperlich zu spüren bekommen. Alles Stabile scheint ins Wanken zu geraten. Es geht weiter, die Energien werden schwächer. Es geht ihm langsam wieder besser. Heute ist Sonntag. Die Sonne scheint und die Stadt ist ruhig. Keiner soll sie wecken. Es gäbe gerade jetzt einige Städte, die Schlaf brauchen würden, während dem sie die Ängste und Aggressionen im Traum verlieren können, um erholt wiederaufzuerstehen, um Menschen in Frieden weiter leben zu lassen. Gute Nacht und träumt was Schönes!

2022

Naw Ruz habe ich heuer ausgelassen. Es  gab keine Farben in meinem Haus. Ich wollte nicht feiern. Nicht ohne meinen Eltern, nicht ohne meinen Bruder und nicht mit einem neuen Krieg.

2 Kommentare

  1. Sheida Samyi sagt:

    Danke für die lieben Worte und ja, ich weiß. Diese Worte und Erinnerungen, die ich beschreibe, sind auch immer nur ein Moment, ein Bruchteil des Ganzen und können in der Kürze niemals alles erfassen. Ich liebe Gelb:)

  2. du wirst auch wieder schöne Erinnerungen sammeln können… jeder Augenblick im Leben ist so wie er ist – einmal tut er der Seele gut und ein anderes Mal glauben wir das Leben ist schwarz. Das Leben ist aber grau. Nicht eintönig grau und nichtssagend, denn auch grau kann eine wunderschöne Farbe sein. Irgendwann kombinierst du dann dieses Grau mit einem sonnigen, leuchtenden Gelb!

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