ALLE AN BORD.

HELP

Wo bin ich. Ich habe die Orientierung verloren. Ich bewege mich im Kreis. Der Blick aus dem Fenster verstärkt das Suchen. Wasser, Wellen, fließen vorbei, brechen sich. Mir ist übel. Alles schwankt mit meinen Gefühlen im Gleichklang. Gemischt wie die Kulturen an Land, erkenne ich meine klare Person in der Masse der Gleichförmigkeit. Gleiche Bedürfnisse, gleiche Fragen, kein Interesse an Antworten, keine Fröhlichkeit, kein Geschmack, kein Genuss. Eine unendliche Liste an Lebensverneinungen. Ein trauriger Anblick, traurige Aussichten. Ich könnte den Verstand noch verlieren. Sie haben ihn schon längst verloren. Zu viele Menschen dieser Art empfinde ich als Bedrohung. Sie entscheiden nicht für sich, nicht von sich aus. Sie sind manipulierbar. Sie reagieren. Sie fühlen sich nur in einer vertrauten Umgebung mit bekannten, geregelten Strukturen wohl. Finden sich auch nur dort zurecht. Rausgerissen aus diesem Trott entsteht Panik. Daraus wiederum Rücksichtslosigkeit und Gewalt. Es reicht in diesem Moment eine Person aus, die irgendeinen Grund liefert all das auszuleben. Diese Gedanken umkreisen mich wie wir die Karibik. Die Sklaverei ist noch gar nicht so lange her. Die Geschichte verfolgt uns alle. Schwarze arbeiten an Bord. Ganz unten, wo man sie nicht sieht. Philipinos dienen weiter oben, Weiße führen das Schiff an der Spitze. Es fühlt sich nicht richtig an und dennoch lässt sich Fortschritt nicht verleugnen. Langsam, teilweise unmerklich, wächst die Gerechtigkeit. Ich bin zu ungeduldig um diese zu Beklatschen. Zu viele Unwahrheiten werden verbreitet, zu viele Spiele gespielt, zu viele Augen zugedrückt, zu wenig Werte gelebt, zu wenig Liebe verschenkt, zu viel Leistung erwartet, an zu Vieles haben wir uns gewöhnt. An dieser Stelle möchte ich mir gewöhnlich einen Tee machen, aber ich bin auf einem Schiff. Einen Tee zu drinken bedeutet meine Koje zu verlassen. Wieder dabei zu sein ohne dazu zugehören, ohne dazu gehören zu können. Das entspannende Ritual Tee zu drinken wäre außerhalb meiner eigenen Welt unmöglich entspannend. Ich lasse diese Gewohnheit und stelle mir alles andere anders vor. So vergehen die Tage. Jeden Morgen starte ich einen neuen Anfang. Einen erneuten Versuch meine Umgebung auszublenden. Aber wieder die gleichen Fragen, keine Bewegung, das Schiff steht. Es ist eingelaufen. Im ersehnten Hafen. Kaum gelandet und etwas Freiheit geschnuppert wird es wieder dunkel um mich und ich muss zurück. Die Zeit ist abgelaufen. Das Schiff läuft fast geräuschlos aus. Eine Hymne begleitet die Stimmung dieses leisen Abschieds. Sie dröhnt in meinem Kopf. Unter meinem Körper vibriert es.

2003 in der Karibik.

 

2 Kommentare

  1. Sheida Samyi sagt:

    Gute Frage;) Mein damaliger Mann hielt einen Malkurs auf diesem Schiff ab und ich wollte ihn begleiten. Wie es mir dann ging, hat mich selbst sehr überrascht. Mir war vieles davor gar nicht bewusst. In dem Text geht es mir aber auch mehr um das, was auf engem, abgegrenzten Raum viel deutlicher wird, als wenn man die Freiheit hat zu gehen.

  2. wol sagt:

    Warum dann eine Kreuzfahrt machen?

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