ich sehe rot

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Ich sehe rot  Es ist Zeit die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Draußen in der Welt ist es kalt. Ich schlinge meinen drei Meter langen Schal einige Male um meinen schutzverlangenden Hals. Minus 10 Grad, in einer Stadt in der man grau trägt um sich nicht zu sehr von der Umgebung abzuheben. Die Blicke richten sich zu Boden. Würde man aufsehen, würden die Augen anfangen zu tränen. Dieses eine Mal tränen sie bei mir allerdings vor Kälte und Wind. Ich komme an eine Kreuzung und muss doch einen Blick riskieren. Es ist rot ……er steht auf der anderen Seite. Ich hasse das Gefühl rot zu werden und wieder einmal werde ich mich, falls nötig, auf die Reflektion der Ampel ausreden müssen. Wir haben uns vor langer Zeit geliebt, glaube ich zumindest. Vor ungefähr 2 Wochen. Ein einziger Satz hat mit einem Schlag alles verändert, meine Zukunft bestimmt und sie mir in die Hand gelegt und all meine Erwartungen erfüllt. Genauer gesagt waren es 365 Stunden. Eine Stunde verging so langsam wie ein Tag, und somit trafen wir uns hier an dieser Kreuzung eigentlich nach meiner subjektiven Wahrnehmung, ein Jahr später. Inzwischen in Gedanken, vergeht ein ganzes Jahr ohne ihn. Weihnachten ohne ihn und seiner pedantischen, ich nenne es an dieser Stelle, eher beängstigenden Art und Weise den Baum zu schmücken. Als Kind wurde er dazu aufgefordert seinen Wunschzettel unter den Baum zu legen, nichts Ungewöhnliches. Als er in die Pubertät kam, scheinbar aber nie mehr heraus, entschied er sich für eine aufdringlichere Form seine Wünsche, eigentlich seinen einzigen Wunsch, zu äußern. Vierundzwanzig kleine rote Ferraris schmücken seitdem jeden seiner Weihnachtsbäume. Im ersten Jahr unseres gemeinsamen Versuches ein friedliches Leben zu führen, kam ich mit dem Vorschlag kleine rote Schuhe für mich dazu zu hängen und wurde strengstens darauf hingewiesen, dass Schuhe sowohl in keinem Zusammenhang mit dem heißesten Schlitten der Welt stehen, als auch daraus resultierend, sie die guten, harmonisch fließenden Energien seiner auserwählten Träume nur stören würden. Heute ist er 42 und fährt einen grünen Mazda, das Auto seines Vaters, der sich endlich einen soliden silbernen Mercedes, allerdings nur auf Kredit, leisten konnte. Seine Frau hatte ihm von Anfang an verboten den Weihnachtsbaum zu dekorieren. Das wäre allein Frauensache. Frauensache ist es auch, sich nicht darüber aufzuregen, wenn sie es trotzdem tun. Kaum erholt von der üblichen Weihnachtskatastrophe passiert schon die nächste. Sylvester. Ein viel zu langes Jahr ist endlich vorbei und ein schöneres, erfolgreicheres, aufregenderes, unkomplizierteres… könnte möglicherweise folgen. Ersteres wäre schon Grund genug, ausgelassen zu feiern, aber jedes Mal, wenn es dann so weit ist, schwört man sich selbst, statt dessen lieber dieses Fest auszulassen und somit ist die Hoffnung auf bessere Zeiten für immer verloschen. Bis Mitternacht ist man damit beschäftigt die immer noch anwährende Langeweile des vergangenen Jahres mit Hilfe von Alkohol zu vergessen. Um ca. zwölf Uhr, keiner weiß es dann mehr so genau, wird man von einem nach Wodka stinkenden Fahnenmast kurz abgeschleckt. Danach muss man weiter trinken um diesen Kuss, der das nächste Jahr sehr bezeichnend und wenig viel versprechend einleitet, wieder zu vergessen. Am nächsten Tag kann man sich leider immer noch daran erinnern. Ein Sektfrühstück könnte helfen, tut es aber nicht. Bis Ostern hat man sich daran gewöhnt und freut sich schon wieder über Kleinigkeiten wie, er hat nicht vergessen dir zu sagen, dass am Ostersamstag seine Freunde zu uns nach Hause kommen um zu pokern. Ich konnte ausnahmsweise noch rechtzeitig Getränke für „unsere Gäste“ besorgen und mir eine alternative Fluchtmöglichkeit ausdenken, um nicht mit meiner puren Anwesenheit die stehende Rauchwolke an der Wohnzimmerdecke in Bewegung zu bringen, und sie damit in ihrer absoluten Konzentration stören. Ich entschied mich für einen Wellness – Abend mit Schwimmen, Sauna und Solarium, einem Film über eine rührende Liebesgeschichte wie sie im richtigen, eigentlich im falschen Leben nie passiert, und anschließend ein bis zwei Drinks im Lokal meiner besten Freundin. Ich war vollkommen betrunken und geendet hat der Abend mit einem Kuss. Unwesentlich, dass sich unsere Lippen nie berührten. Meine Wangen fühlten sich geschmeichelt und wurden wieder einmal rot. Unter diesen, meinen Umständen war er ausgesprochen nett. Mehr wollte ich gar nicht wissen. Als ich nach Hause kam wollte ich auch nichts mehr wissen. Ich schlich mich extrem auffällig an der Pokerrunde vorbei. Natürlich hätte ich gar nicht schleichen müssen, nur überhaupt nicht wahrgenommen zu werden, während man eigentlich in der Stimmung wäre, super geil und sexy am Pokertisch zu tanzen, wäre zu frustrierend. Ein viel zu freundliches „Gute Nacht Jungs!“ kommt mir über die Lippen. Ein einzelnes, allerdings nicht zu ortendes „Hhmm“ ist die Antwort. Ich beschloss meinen kommenden Geburtstag auch allein zu feiern, denn ich wusste, er würde von selbst nie daran denken, wenn ich ihn nicht tagelang und besonders an dem eigentlichen Tag immer wieder deutlich daran erinnerte. Leise Andeutungen und liebevolle Hinweise würden absolut keine Reaktion hervorrufen. Ich ersparte mir das alles und freute mich schon auf den 15. November. Der Tag kam und wie erwartet ging er mit seinen Kumpels Billard spielen. Ich hatte mir ein neues Kleid gekauft und nachdem ich nach der Sauna alles Gift aus meinem Körper und Geiste über meine Schweißdrüsen loswerden konnte und mich porentief gereinigt fühlte, passte mir das Kleid wie angegossen. Mit gutem Vorsatz hatte ich es mir eine Nummer kleiner gekauft und hiermit hatte ich mein Ziel erreicht. Es und ich gefielen mir sehr. Als Kinofilm suchte ich mir diesmal keinen Liebesfilm sondern die Verfilmung einer wahren Geschichte über eine Frau, die alles erreicht hatte, was sie wollte. Erstens weil sie wusste, was sie wollte und zweitens, weil sie das auch tat. Überaus motiviert und überzeugt, dass das ja nicht so schwierig sein kann, bestellte ich mir den mittlerweile fünften Wodka Gimlet. Meine Osterbekanntschaft leistete mir Gesellschaft und brachte mich zum Lachen. Ich wollte mindestens schon zehn Mal gehen und mindestens zehn Mal haben wir uns zum Abschied geküsst. Natürlich tat ich noch mehrmals so, als wollte ich gehen. Ungefähr beim 24. Mal spürte ich eine dritte Hand auf meinem Körper. Sie berührte mich auf eine Art und Weise, die mir leider allzu bekannt war. Ich wäre zusammengeschreckt, wenn mein Körper nicht so zufrieden und entspannt gewesen wäre. Er sah mich, abwechselnd ihn, mit so weit es ihm auf Grund seines äußerst betrunkenen Zustands noch möglich war, mörderischen, versucht furchteinflösenden, richtig bösen Blicken an. Wir hatten einander nichts zu sagen und dennoch kam die Frage: “Wenn du glaubst, dass du es bei dem Typen besser hast als bei mir, warum bist du dann nicht mit ihm zusammen? Warum?????!!!!…Weiß ich nicht!!…Jetzt war wirklich alles gesagt. Er drehte sich zu seinen Freunden um und tat so als wäre nichts gewesen. Das war auch so. Ich verabschiedete mich noch ein paar Mal von diesem aussergewöhnlich gut küssenden Mann, ging schwankend nach Hause, packte meine Sachen und fühlte mich seit langem wieder richtig frei. Ich zog in mein Atelier und fing noch an diesem Abend wieder an zu malen. Diese zwei Wochen waren zwei der glücklichsten. Ich habe grünes Licht und gehe lächelnd an ihm vorbei. Er konnte mich nicht aufhalten.

Die Personen und die Handlung aller meiner Kurgeschichten sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten Personen sind rein zufällig.